Achtsamkeit & Kreativität

Macht uns Mindfulness kreativer? Ich glaube: Ja. Denn in der Achtsamkeitspraxis entwickeln wir eine innere Haltung, die uns neugierig, geistig flexibel und experimentierfreudig macht. Zudem lernen wir, uns Fehler schneller zu verzeihen und dadurch unerschrockener Neues auszuprobieren.

Nicht viele denken bei Achtsamkeit auch an Kreativität. Ich habe allerdings festgestellt, dass eine regelmässige Achtsamkeitspraxis dazu beigetragen hat, mich - z.B. als Autorin - kreativer zu machen. Teilnehmer*innen meiner Workshops und Trainings berichten ähnliches. Wo gibt es hier also Zusammenhänge? Hier ein paar Gedanken dazu von mir:

Anfängergeist: Staunen & entdecken

In der Achtsamkeitspraxis versuchen wir mit jenem Teil von uns (wieder) in Kontakt zu kommen, der mit Offenheit und Neugierde in die Welt blickt. Als Kinder staunen wir noch über alles. Wir entdecken täglich Neues, Unbekanntes. Wir stellen unendlich viele Fragen. Als Erwachsene geht uns diese innere Einstellung oft verloren. Wir denken, dass wir die Dinge längst kennen. Bescheid wissen. Wir folgen vertrauten Gedankenstraßen und haben unsere Schlüsse gezogen. Etwas nicht zu wissen, ist uns eher peinlich - daher fragen wir lieber nicht nach… man will sich ja nicht blamieren.

"In the beginner's mind there
are many possibilities,
but in the expert's there are few."

Shunryu Suzuki

Dadurch verlieren wir aber nicht nur die Freude am Staunen und Entdecken, sondern auch die Fähigkeit, mit Offenheit und einem frischen, unvoreingenommenen Blick auf Dinge, Prozesse, Menschen zuzugehen. Eine Perspektive des Nicht-Wissens und der Lernfreude einzunehmen. Erstmal genau hinzusehen, bevor wir Urteile fällen und Antworten geben. Aber wir brauchen diesen Anfängergeist, um wirklich kreative Lösungen entwickeln. Es ist ein bekanntes Phänomen, dass Experten geradezu blind werden für andere Möglichkeiten als die ihnen vertrauten. Echte (oder gar: disruptive) Innovationen entstehen dann eher nicht. Die verlangen nach einer völlig neuen Denkweise - wie schon Albert Einstein wusste: "Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind."

Abgesehen davon, dass wir damit kreativere Ergebnisse erzielen, macht es auch einfach großen Spaß öfter mit der Brille des Anfängers in die Welt zu schauen und wieder einmal wie ein Kind zu staunen. Dann werden auch kleine Dinge zu einer Quelle der Freude und rauschen nicht unbemerkt an uns vorbei. Wir erinnern uns an das, was wir schon einmal wussten: Dass die Welt, das Leben voller Magie und Schönheit ist - und zwar in jedem Moment.

Geistige Flexibilität fördern

Als Menschen haben wir viele mentale Muster und Gewohnheiten. Ein Teil davon stammt schlicht aus unserer Evolution als Spezies - z.B. unsere Negativity Bias oder der Automatismus des schnellen Urteilens (“mag ich”, “mag ich nicht”), ein anderer Teil hat mit individuellen Erfahrungen zu tun. An vielen Stellen erleichtern uns diese Muster das Leben auch enorm (z.B. wenn wir entscheiden müssen, ob wir bei grün oder rot über den Zebrastreifen gehen sollen und wo wir im Supermark um die Ecke die Nudeln finden).

Wenn es darum geht, kreativ zu werden, dann können unsere mentalen Schubladen aber eher hinderlich sein. Etwa, wenn uns geistige “Lieblingsgeschichten” oder Glaubenssätze im Weg stehen (“ich bin nicht kreativ”). Oder wenn wir automatisch auf gewisse Reize reagieren (z.B. immer schön brav auf der Linie schreiben).

In der Achtsamkeitspraxis lernen wir unseren Geist und seine Muster sehr gut kennen. Dabei üben wir auch, eine Meta-Perspektive einzunehmen, die uns mehr Spielraum gibt, zu entscheiden, ob wir den ausgetretenen Pfaden in unserem Gehirn folgen oder diese verlassen möchten. Wie gesagt: Beides macht zu unterschiedlichen Zeiten viel Sinn.

Diese Wirkung wurde übrigens schon in Studien nachgewiesen: Achtsamkeitsübungen führen dazu, dass Menschen mehr Offenheit für das Verlassen von gewohnten Denkmustern entwickeln.

Meditation: Wer still wird, hört mehr

Wenn wir eine regelmäßige Achtsamkeitspraxis haben, dann verfeinert sich unsere Wahrnehmung - und es tauchen Einsichten in uns auf, die aus einer anderen Quelle kommen als jenes Wissen, das wir durch reines Nachdenken erlangen. Es geht dabei um ein tieferes Verstehen. Um eine Weisheit, die auch unsere Intuition, unser “Bauchgehirn” und unser Herz miteinbezieht. Wem das zu “soft” ist, dem sei gesagt, dass Experimente gezeigt haben, dass bei komplexen Entscheidungen das unbewusste Denken dem bewussten Denken überlegen ist. Wir erzielen die besten Ergebnisse, wenn wir alle Ebenen des Wissens in uns nutzen. (Lesetipp dazu: “Das kluge Unbewusste - Denken mit Gefühl und Intuition” von Ap Dijksterhuis)

Für kreative Prozesse bedeutet das: Wir schaffen durch die Meditation einen offenen Raum in uns, in dem Impulse auftauchen können, und eine innere Klarheit und Stille, in der wir diese wahrnehmen. Dies hat auch Steve Jobs erkannt, der regelmäßig meditierte: “Wenn man einfach dasitzt und beobachtet, merkt man, wie ruhelos der Geist ist. […] Mit der Zeit wird er jedoch ruhiger, und wenn dies geschieht, bleibt Raum, subtilere Dinge zu hören - das ist der Moment, in dem die Intuition sich entfaltet, man die Dinge klarer sieht und mehr in der Gegenwart verhaftet ist. […] Man sieht so viel, was man bereits hätte sehen können. Das ist eine Disziplin, in der man sich üben muss. "

Auch bei Google gibt es bereits seit einigen Jahren Mindfulness Trainings für die Mitarbeiter*innen. Das “Search Inside Yourself”-Programm des Unternehmens wurde von Chade-Meng Tan - gemeinsam mit Achtsamkeitspionieren wie Jon Kabat-Zinn - entwickelt. Das bewusste Kultivieren einer inneren Haltung, die kreatives Denken ermöglicht, ist dabei zentral:

"Wenn der Geist wach und gleichzeitig entspannt ist, sorgt die Entspannung dafür, dass freie Ideen genug Spielraum erhalten, um aufzutauchen und zu interagieren, und durch die Wachheit nehmen wir sie und ihre Verbindungen untereinander wahr, so als ob ein Kieselstein in einen ruhigen See fiele."

Chade-Meng Tan, Google/SIY

Der Ideen-Killer in uns

Ein erbarmungsloser innerer Kritiker ist dafür verantwortlich, dass viele von uns nicht zu kreativer Höchstform auflaufen. Denn wenn Fehler machen oder gar scheitern nicht erlaubt ist, dann sind wir nicht besonders motiviert, etwas Neues auszuprobieren. Wir können gar nicht mit Leichtigkeit, Spaß und Spielfreude an eine Sache herangehen.

In der Achtsamkeitspraxis lernen wir, wie wir unseren inneren Kritiker auch einmal zur Seite bitten können. Und wie wir ein inneres Klima schaffen, in dem Fehler keinen Weltuntergang bedeuten - sondern eine Chance, etwas zu lernen. Wir entwickeln Selbstmitgefühl - also eine innere Stimme, die uns ermutigt, versteht und tröstet. Die weiß, dass Perfektion eine Illusion (und ganz schön langweilig) ist und alle Menschen gelegentlich scheitern. So entwickeln wir mehr Verständnis für uns selbst - aber auch mehr Empathie und Mitgefühl für andere. Eine Fähigkeit, die gerade in Team- und Innovationsprozessen (z.B. im Design Thinking), enorm wichtig ist.

Eine weitere gut erforschte Tatsache ist, dass Achtsamkeit uns dabei hilft, mit Belastungssituationen konstruktiv umzugehen und die Stressreaktion unseres Körpers zu regulieren. Auch das spielt im Zusammenhang mit Kreativität eine wichtige Rolle. Denn: Ein Mensch, der gerade im Fight-, Flight- oder Freeze-Modus ist, kann gar nicht kreativ sein. Bestimmte Regionen des Gehirns - die auch für Kreativität wichtig sind - stehen gar nicht voll zur Verfügung, wenn wir im roten Bereich sind. Unsere Reaktionen im Stressmodus laufen eher automatisch ab und folgen den vertrauten Bahnen. Im Klartext: Wenn der Körper gerade ums Überleben kämpft (weil er einen cholerischen Chef nicht von einem Säbelzahntiger unterscheiden kann), dann probieren wir nicht mal was lustiges Neues, sonders rennen in die Richtung, aus der wir gekommen sind.

Das ist übrigens ein bekanntes Phänomen in Notsituationen: Immer wieder kommt es vor, dass Menschen bei Bränden oder Flugzeugabstürzen auf tragische Weise sterben, weil sie versuchen, durch dieselbe Tür zu entkommen, durch die sie hereingekommen sind. In der Panik kommen sie gar nicht auf die Idee, dass es bessere Fluchtwege geben könnte.

“Glaub mir, die Angst wird sich immer zeigen - besonders dann, wenn du versuchst, einfallsreich und innovativ zu sein. Kreativität wird sie geradezu herausfordern, denn sie verlangt, dass du dich in Gefilde mit ungewissem Ausgang vorwagst, und Angst hasst es, wenn etwas ungewiss ist.

Das ist vollkommen natürlich und menschlich. Nichts wofür man sich schämen müsste. Es ist allerdings etwas, dem man sich dringend stellen muss.”

Elizabeth Gilbert

Gute Stimmung macht kreativ

Studien haben noch einen anderen Zusammenhang deutlich gemacht: Achtsamkeit verbessert bei vielen Menschen ganz allgemein die Stimmung. Und wer in guter Stimmung ist, ist auch kreativer als jemand mit mieser oder niedergeschlagener Laune. So beflügelt also Achtsamkeit auch indirekt Kreativität.

Ebenfalls gezeigt werden konnte in Studien, dass bestimmte Formen der Achtsamkeitspraxis (z.B. offenes Gewahrsein) divergentes Denken fördern. Divergentes Denken wird als “offen, unsystematisch und experimentierfreudig” beschrieben und soll die Wahrscheinlichkeit für kreative Einfälle erhöhen. Dem gegenüber steht konvergentes Denken, das als “gewöhnlich, linear, streng rational-logisch” gilt.

Es gibt also durchaus ein paar relevante Hinweise dafür, dass Achtsamkeitsübungen uns dabei unterstützen, kreativ(er) zu sein. Ich kann bestätigen, dass viele tolle Ideen beim Sitzen auf dem Meditationsbänkchen oder bei achtsamen Spaziergängen in mir aufgetaucht sind - als ich eigentlich gar nicht auf das jeweilige Thema fokussiert war. Ich bin aufmerksamer für kleine Dinge, die mich inspirieren, und muss nicht immer zuhören, wenn meine innere Kritikerin, die Spielverderberin, sich lautstark zu Wort meldet.

Neugierig? Hier ein paar Ideen, wie du ganz einfach deinem Entdeckergeist und deiner Kreativität auf die Sprünge helfen kannst:

Übungen zum Ausprobieren

  • Den Anfängergeist einladen

Such dir eine Tätigkeit, die du regelmässig und ganz automatisch machst, aus und versuche diese mal mit größtmöglicher Achtsamkeit und Neugierde zu tun. Du kannst z.B. auf dem Weg zur Arbeit oder zum Supermarkt einmal wirklich mit offenen Augen durch die Welt gehen: Was gibt es zu sehen? Zu riechen? Zu hören? Oder versuche einmal unter der Dusche ganz bei der Sache zu sein: Wonach duftet es? Wie fühlt sich das Wasser auf der Haut an? Wie klingt es, wenn es auf deine Kopfhaut prasselt? Auch das Trinken eines Kaffees oder das Essen einer gewöhnlichen Mahlzeit kann so zur Entdeckungsreise werden: Was gibt es mit den Sinnen zu erfahren? Wie würdest du vorgehen, wenn du ein Alien wärst, der dieses Getränk/diese Speise zum ersten Mal zu sich nimmt?

  • Meditatives Zirkeltraining

    Diese Übung stammt aus dem Search Inside Yourself-Programm von Google. Dabei wechselt man zwischen fokussierter Aufmerksamkeit (Achtsamkeit auf einen Anker) und weiter Aufmerksamkeit (offenes Gewahrsein). Voraussetzung ist meines Erachtens, dass man bereits Erfahrung mit der Praxis des offenen Gewahrseins hat. Wenn du das hast, dann probier doch einmal deine Aufmerksamkeit zunächst ca. 3 Minuten auf einen Anker deiner Wahl (z.B. Atem) zu richten. Und dann zum offenen Gewahrsein überzugehen - auch ca. 3 Minuten lang. Wechsle so mehrmals zwischen diesen beiden Formen des Praktizierens hin und her. Wenn du dies öfter übst, kannst du auch im Alltag einfacher und flexibler darauf zurückgreifen, z.B. wenn du dich fokussieren oder gezielt für Impulse öffnen willst.

  • Journaling

    Wenn du gerne schreibst, dann stell doch deinen Wecker auf 5-10 Minuten und schreibe alles auf, was dir zu den folgenden Fragen einfällt. Kleiner Tipp vorab: Versuche deinen Stift nicht ruhen zu lassen, bis die Zeit abgelaufen ist. Wenn du nicht weißt, was du schreiben sollst, dann schreibe einfach “ich weiß nicht, was ich schreiben soll” - bis wieder etwas auftaucht. Hier die Impulsfragen: Welche Rolle spielt Kreativität in deinem Leben? Welche Erfahrungen hast du damit gemacht (z.B. als Kind) - und wie prägen dich diese vielleicht heute? Welche Lieblingssätze hat dein*e innere*r Kritiker*in, wenn es um Kreativität/Ideen geht? Wo bist du bereits kreativ/findest du immer wieder kreative Lösungen?

    Wenn du fertig geschrieben hast, empfehle ich dir, vielleicht noch 5-10 Minuten in stiller Meditation zu sitzen. Möglicherweise tauchen dann noch ganz andere Antworten in dir auf.

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Was ist eigentlich Achtsamkeit?