Was ist eigentlich Achtsamkeit?

Je mehr Menschen über Mindfulness reden, umso mehr Missverständnisse gibt es auch rund um das Thema. Daher möchte ich hier erklären, was ich meine, wenn ich von Achtsamkeit spreche und warum es sich lohnt, den “Achtsamkeits-Muskel” zu trainieren.

Mindfulness ist längst kein Nischenthema mehr. Aber je größer der Hype rund um Achtsamkeit wird, umso mehr Fragen und Missverständnisse tummeln sich auch da draußen. Und um es gleich vorab zu sagen: Die alleingültige Definition gibt es nicht. Das Wort lässt viel Spielraum für Interpretationen und der Trend der letzten Jahre hat zur Verwirrung beigetragen. Das, was ich mit Achtsamkeit meine und als Trainerin vermittle, ist allerdings klar definiert und tief verwurzelt in einer jahrtausendealten Tradition. Zugleich handelt es sich um eine säkulare Form der Praxis, die für alle zugänglich, absolut lebensnah und zeitgemäß ist.

„Wenn wir einen Begriff nennen müssten, der in den kommenden Jahren eine Schlüsselrolle spielen wird: Welchen würden wir wählen?

Achtsamkeit.
In einer überfüllten, überreizten, überkomplexen Welt müssen wir lernen, uns auf neue Weise auf uns selbst zu besinnen.“

Matthias Horx, Zukunftsinstitut

 

Achtsamkeit - eine Definition

Achtsamkeit wird häufig als Synonym für “Aufmerksamkeit” oder “Genauigkeit” verwendet. Im Deutschen geht das Wort auf den mittelhochdeutschen Wortstamm “ahden” zurück, was so viel heißt wie “bewusstes Wahrnehmen”. Für manche bedeutet es, etwas ganz vorsichtig, bedacht und langsam zu machen. Aber in diesem Kontext ist mit Achtsamkeit eine bestimmte Art von Aufmerksamkeit, eine gewisse innere Haltung gemeint. Die bekannteste Definition stammt wohl von Jon Kabat-Zinn, dem Begründer der Mindfulness-Based Stress Reduction (MBSR):

"Achtsamkeit bedeutet, dass wir auf eine besondere Weise aufmerksam sind
- und zwar gezielt, im gegenwärtigen Moment und ohne zu werten."
(Jon Kabat-Zinn)

Hier werden bereits drei wichtige Aspekte deutlich:

  • gezielt: In unserem Alltag wird unsere Aufmerksamkeit oft von äußeren Impulse gesteuert oder wir sind im Autopiloten-Modus unterwegs. Dies hat sich durch die Digitalisierung noch einmal deutlich zugespitzt. In der Achtsamkeitspraxis lernen wir, wieder öfter selbst am Steuer unserer Aufmerksamkeit zu sitzen.

  • im gegenwärtigen Moment: Unser Geist hat die Tendenz, von der Gegenwart abzuschweifen und stattdessen Vergangenes wiederzukäuen (grübeln) oder die Zukunft vorwegzunehmen (sorgen). Das hat evolutionäre Gründe und ist völlig normal. Es sorgt aber dafür, dass wir oft den einzigen Moment verpassen, in dem unser Leben stattfindet: das Jetzt.

  • ohne zu werten: Hier ist nicht gemeint, dass wir nichts mehr bewerten und gleichgültig werden, sondern dass wir uns unserer Urteile, Bewertungen und Muster bewusst(er) werden - und so mehr Spielraum erhalten, zu wählen, wie wir mit diesen automatischen Reaktionen umgehen möchten. Außerdem üben wir, uns unseren Erfahrungen und uns selbst möglichst offen, interessiert, freundlich und mitfühlend zuzuwenden.

Die kleinen Momente des Glücks nicht mehr verpassen… Achtsamkeit bedeutet, immer wieder aufzuwachen aus der Alltags-Trance und dadurch öfter ganz präsent zu sein im gegenwärtigen Moment.

Eine weitere Definition, die ich sehr mag, stammt von Sylvia Boorstein, einer amerikanischen Meditationslehrerin:

"Achtsamkeit ist die bewusste, gelassene Annahme
der augenblicklichen Erfahrung - nicht mehr."
(Sylvia Boorstein)

Was so einfach klingt, ist alles andere als leicht. Oder wie es im Englischen so schön heißt: Simple, but not easy. Aber zum Glück können wir auf das Erfahrungswissen von Jahrhunderten zurückgreifen: Die Wurzeln der Achtsamkeitspraxis liegen in der buddhistischen Lehre. Aber auch in anderen Traditionen und religiösen Gemeinschaften gibt es meditative/kontemplative Praktiken. Sie alle haben erkannt, dass wir in der Stille eine Form der Einsicht und Weisheit erschließen können, die uns nicht alleine über das Denken zugänglich ist. Und darum geht es letztlich auch in Achtsamkeit: Uns selbst, das Leben, die Welt besser zu verstehen. Klar zu sehen, was ist. Hilfreiches von weniger hilfreichem Handeln zu unterscheiden. Und so unser Lebensschiff besser steuern zu können Richtung Zufriedenheit und Wohlbefinden.

Wie übt man Achtsamkeit?

Achtsamkeit ist eine innere Haltung, die man genauso wie eine Muskel trainieren kann. Es gibt verschiedene Formen des Übens. Normalerweise unterscheidet man zwischen der formellen Achtsamkeitspraxis, z.B. Sitzmeditation, Body Scan, Gehmeditation… und der informellen Praxis, bei der wir Achtsamkeit in unseren Alltag integrieren, z.B. in form von achtsamem Essen, Duschen, achtsamer Kommunikation, Meetingkultur u.a.

Eine Frage, die mir oft gestellt wird, ist: Brauche ich wirklich eine formale Praxis? Reicht es nicht, wenn ich versuche, im Alltag achtsam zu sein? Die erste Rückfrage, die ich dann stelle ist: Reicht wofür? Es kommt immer darauf an, was man erreichen möchte. Wenn die Alternativen lauten: Gar keine Achtsamkeit oder ab und zu Achtsamkeit im Alltag - dann plädiere ich für Letzteres. Aber genau wie ich bei einem Marathon eher das Ziel erreiche, wenn ich davor etwas trainiert habe, gelingt es wohl leichter, im “Alltags-Marathon” wirklich achtsam und am Steuer der eigenen Aufmerksamkeit zu bleiben, wenn man davor unter “optimalen Bedingungen” - d.h. in einer ruhigen, möglichst störungsarmen Umgebung - geübt hat.

Wenn die Absicht also lautet, Achtsamkeit zu einem Teil des eigenen Lebens zu machen, dann braucht es meines Erachtens die regelmässige formale Übungspraxis. Aber auch eine reine informelle Praxis oder unregelmässige Momente der Achtsamkeit können bereichernd sein. Ich denke da gilt es, den individuellen eigenen Weg zu finden und zu entscheiden: Was ist mir wirklich wichtig?

Being indistractable
is the superpower of the 21st century.

University of Stanford

Was ist Achtsamkeit nicht?

Immer mehr spreche ich auch darüber, was Mindfulness nicht ist. Denn mit der etwas inflationären Verwenden sind auch Unschärfen und Missverständnisse entstanden. Hier ein paar sehr gängige Irrtümer:

Achtsamkeit bedeutet alles gaaaanz laaangsam zu tun.

Achtsamkeit ist weder langsam noch schnell. Gerade am Anfang ist es oft leichter, manche Formen der Praxis (z.B. Gehmeditation) langsam zu üben. Mit der Zeit kann man aber auch bei erhöhtem Tempo achtsam bleiben.

Bei Achtsamkeit geht es um Entspannung. Wellness quasi.

Viele denken bei Achtsamkeit an Entspannung - und sind dann enttäuscht, wenn es zunächst lauter in ihnen wird und nicht leiser. Auch das ist völlig normal: Wir nehmen stärker war, was in uns geschieht. Mit der Zeit lernen wir dann, unser Stresserleben besser zu regulieren.

Meditation bedeutet, nicht(s) mehr zu denken.

Kaum einen Einwand höre ich öfter: "Ich kann nicht meditieren, weil ich zu viele Gedanken habe." Willkommen im Club! Achtsamkeitsmeditation bedeutet nicht, nichts mehr zu denken (Spoiler: das geht nicht). Es bedeutet, sich dessen mehr gewahr zu werden, welche mentalen Muster wir haben und welche "Lieblingsgeschichten" unser Geist gerne erzählt. Denken, abschweifen, monkey mind… das alles ist völlig normal und Teil der Übung.

Achtsamkeit bedeutet positiv denken. #toxicpositivity

Achtsamkeit bedeutet nicht, sich Dinge schönzureden. Oder wie ich gerne sage: Zuckerguss über 💩 zu pinseln. (Pardon my french 🤭) Das Gegenteil ist der Fall: Wir sehen mit größtmöglicher Klarheit und Offenheit, wie die Dinge sind. Und dann können wir entscheiden, was heilsames Handeln in dieser Situation bedeutet.

Mindfulness ist ein Tool zur Selbstoptimierung.

Es geht in der Achtsamkeitspraxis nicht darum, dass du besser werden sollst - oder gar perfekt. Vielmehr gehen wir davon aus, dass zu jedem Zeitpunkt mehr an uns Menschen richtig und gesund ist als falsch oder krank. Das bedeutet nicht, dass wir nicht an etwas arbeiten können (z.B. geduldiger zu werden) - aber es beginnt bei liebevoller Akzeptanz. So wie es diese wundervolle Zitat von Shunryu Suzuki ausdrückt: „So wie du bist, bist du perfekt. Und es gibt immer Raum für Verbesserung.”

Durch Achtsamkeitspraxis flacht mein emotionales Erleben ab.

Manche haben Sorge, dass sie Achtsamkeitspraxis zu emotionalen "Flatlinern" macht. Hier wird Gleichmut mit Gleichgültigkeit verwechselt. Meiner Erfahrung nach ist das Gegenteil der Fall: Das Erleben wird noch klarer, intensiver, reicher. Gleichzeitig habe ich mehr Spielraum zu entscheiden, welchen Impulsen ich folgen will - und welchen nicht.

Mehr über Achtsamkeit erfahren

Joseph Goldstein: “What mindfulness is (& isn’t)” - hervorragende Postcastfolge eines tollen amerikanischen Lehrers (Englisch)

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Was bringt ein Mindfulness-Training?